Heidrun Valencak
Reisebericht: Jakobsweg Schweiz
Eine Reise der etwas anderen Art habe ich letzten Sommer mit meinem Vater erleben dürfen: Er geht zu Fuß den Jakobsweg von der Steiermark nach Santiago de Compostela (Spanien) und durchquert dabei jedes Jahr ein Land. Ich durfte ihn eine Woche lang auf seinem Weg quer durch die Schweiz begleiten.
Wie? Du gehst den Jakobsweg? Von daheim weg bis nach Spanien?“ Meine Familie war vollkommen von den Socken, als mein Papa (heute 69) uns allen seinen Plan verriet – wohlgemerkt 3 Wochen, bevor er seine erste Jahresetappe von Oberwölz (Steiermark) bis Innsbruck (Tirol) in Angriff nehmen wollte. Meine Mama war zunächst etwas von Sorgen geplagt, meine Schwester und ich jedoch eher ein wenig empört, dass wir erst so spät davon erfahren hatten: „Wenn wir das früher gewusst hätten, wären wir mitgegangen“, waren wir uns einig. So fassten wir für 2017 den Entschluss, unseren Vater auf dem Weg von Innsbruck bis nach Genf jeweils eine Woche lang zu begleiten. „Wie? Du gehst eine Woche lang zu Fuß durch die Schweiz? Fallen dir da nicht die Füße ab?“, war die Reaktion meiner Freunde und Kollegen, als ich ihnen meinen Plan erläuterte. Als ich dann noch hinzufügte, dass ich von meiner Wohnung im Grazer Zentrum auch noch zu Fuß zum Flughafen gehen wollte – und das auch noch um halb fünf Uhr morgens – wurde das nur mehr mit „Du bist ja verrückt …“ kommentiert, aber es hätte sich für mich einfach nicht richtig angefühlt, für diesen Weg ein Taxi zu nehmen.
Anders, als man denkt
Dass dieser Urlaub ganz anders werden würde als alle anderen, zeigte sich bereits bei den Vorbereitungen: In einem Rucksack sollte alles Platz haben, was man für 170 km in einer Woche auf 2 Beinen benötigt. Jedes Utensil sollte möglichst schnell griffbereit sein, das Gewicht sich trotzdem nach Möglichkeit in Grenzen halten, denn schließlich trägt man sein Gepäck durchschnittlich täglich 7-8 Stunden auf dem Rücken. Bei dieser reduzierten Art des Packens beschleicht einen jedoch schnell das Gefühl, etwas vergessen zu haben. Deswegen wurde der Inhalt meines Rucksacks von Schwester, Freund und Nachbarn nochmals auf Herz und Nieren geprüft, bevor ich mich auf den Weg in die Schweiz machte, um schließlich am Bahnhof in Giswil von meinem Papa abgeholt zu werden. Das Abenteuer Jakobsweg begann! Man verfällt schnell in den Trott des Gehens, vergisst die Zeit und Wochentage und macht sich nicht allzu viele Gedanken über die Organisation von Schlafplatz und Essen vor Ort. Natürlich wurde eruiert, ob am Zielort des jeweiligen Tages Unterkünfte und ein Lebensmittelgeschäft verfügbar waren, aber Öffnungszeiten? Doch aus solchen kleinen Nachlässigkeiten lernt man recht schnell: So passierte es uns gleich am Beginn unseres gemeinsamen Weges, dass wir in Brienz am See zwar in allen Unterkünften inkl. Jugendherberge nach einem Zimmer gefragt hatten, jedoch alles restlos ausgebucht war. Wir hatten nämlich nicht bedacht, dass an einem warmen Wochenende im Juni ein Ort am See auf Erholungssuchende wie ein Magnet wirkt … Auch ein Weitergehen in den nächsten Ort wäre sinnlos gewesen, denn dort war ebenfalls kein Schlafplatz mehr frei … Unsere letzte Chance war der örtliche Campingplatz, wo wir auf eine Unterkunft – notfalls auch in einem Vorzelt – hofften. Das Hinweisschild ‚Campingplatz & Zimmer‘ erlöste uns von der Herbergssuche, denn wer außer uns würde schon auf einem Campingplatz ein Zimmer benötigen? Wir lagen mit unserer Annahme richtig: Das einzige verfügbare Appartement durften wir für eine Nacht beziehen. Mit Schweiß von 27 km Fußmarsch im Genick und hungrig wie die Löwen machten wir uns schleunigst auf den Weg zur örtlichen Bäckerei, nachdem uns eingefallen war, dass am Samstag wahrscheinlich nicht bis spät abends geöffnet sein würde. Zum Glück durften wir uns 5 Minuten nach Ladenschlusszeit noch mit Lebensmitteln eindecken, bevor die schon leicht genervte Dame ihren Laden hinter uns schloss. Das ist eine der kleinen Eigenheiten des Jakobswegs: Mit ein wenig Glück und Zufall wendet sich immer alles zum Guten.
Begegnungen, die bleiben
Und die nächste Erkenntnis: Man trifft sich am Jakobsweg mindestens zwei Mal. Als wir eines Abends wieder einmal in einer Unterkunft ankamen, schallte es uns im tiefsten Schwäbisch entgegen: „Mei, dass i di no moi siach, damit hätt‘ i jo nie g´rechnet!“ (Anm: Ich hätte nicht damit gerechnet, dass ich dich noch einmal sehe!). Ich war zugegebenermaßen ein wenig verwirrt, doch aufgrund des Lächelns meines Vaters war mir schnell klar, dass wir auf jene kleine Pilgergruppe getroffen waren, mit der er kurz vor meiner Ankunft für einen Tag unterwegs gewesen war. Natürlich machten wir uns nach einem gemütlichen Abend am nächsten Tag gemeinsam weiter auf den Weg – und verpassten, ganz in Gespräche vertieft, anscheinend eine nicht ganz unwichtige Abzweigung: Der ungeplante Pfad führte uns einen Berg hinauf, jedoch entdeckten wir oben angekommen eine Hängebrücke, die uns einen wunderschönen Fernblick auf den vor uns liegenden Weg bescherte. Einige unserer Mitpilger traten an diesem Tag die Heimreise an, doch den Rest der Gruppe haben wir unterwegs noch einige weitere Male getroffen. Doch es bleibt nicht bei Begegnungen mit Mitpilgern, auch entlang des Weges schlägt einem viel Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft von eigentlich fremden Menschen entgegen: eine Tasse Kaffee, ein Gespräch über Ackerbau im tiefsten Schweizer Dialekt, ein freundliches „Buen Camino“ (= „guter Weg“) oder eine Handvoll Brombeeren aus dem Schrebergarten, die uns für die nächsten Kilometer stärken sollten und uns mit einem Lächeln auf den Lippen weitergehen ließen.
Wo ein Wille, da ein Weg
Es ist erstaunlich, welche unglaublichen Kräfte der eigene Wille mobilisiert, gerade dann, wenn der Körper eigentlich schon streiken möchte. Wir hatten eine ambitionierte Etappe mit über 30 km eingeplant, das Meiste recht flach. Aber: Was im Bereich der Schweizer Alpen nicht „flach“ ist, ist steil. Wirklich steil. So steil, dass man 2 Minuten nach Beginn des Anstiegs aufhört zu sprechen, um genügend Luft zum Atmen zu haben, weil die ca. 200 Höhenmeter gefühlt auf 500 Gehmetern zu bewältigen sind. Wenn auf den letzten Kilometern einer Etappe der Atem vielleicht auch schon recht flach ging und der Rucksack zusätzlich mit Steinen beschwert schien: Aufzugeben und mit dem Bus die letzten Kilometer des Tages zurückzulegen war nie eine Option! Auch das Weitergehen am nächsten Tag wurde nie in Frage gestellt: Natürlich waren die Füße am Abend schwer, und die ersten Schritte des Tages zur Morgentoilette und zum Frühstück fielen meist etwas steif aus, doch nach kurzer Zeit läuft man wieder rund, und das Brennen in den Fußsohlen vom Vorabend gehört der Vergangenheit an. Für mich war auch faszinierend, wie genügsam der eigene Körper bei dieser doch ungewohnten Belastung ist: Wasser fließt natürlich literweise, ein Hungergefühl stellt sich untertags jedoch nicht ein und die mitgetragene Jause wurde häufig zum Abendessen umfunktioniert. Einzig der fallende Blutzuckerspiegel war zwischendurch ausschlaggebend für einen Imbiss – nämlich Schweizer Schokolade, die im Rucksack an der Trinkwasserblase gelagert, auch bei +40° Lufttemperatur ein kühler Genuss war. Kein Wunder, dass die Wanderhose bald nicht mehr auf der Hüfte saß, sondern nur noch an den Hosenträgern hing. Erst am Abend, nach dem ersten Hinsetzen und einer Dusche, bemerkt der Organismus, dass der Tag doch anstrengend war und die Energiespeicher aufgefüllt werden müssen. Dabei wurden für uns die einfachsten Lebensmittel zu einem wahren Festmahl: Vollmundiges Fruchtjoghurt direkt aus einer „Chäserei“, ein kühles Bier auf der Hausbank vor der Unterkunft oder gehaltvolle „Älpler-Magronen“ (Makkaroni mit Schinken-Sahne-Sauce und Apfelmus) – ich hatte richtiggehend das Gefühl, dass mein Körper alles an verfügbarer Energie „aufsaugt“, damit er für den Weg am nächsten Tag gerüstet ist.
Kleine Freuden werden groß
Am Jakobsweg ist alles auf das Nötigste reduziert. In dieser Einfachheit lernt man schnell, sich über Kleinigkeiten zu freuen, denen man im Alltag gar keine große Beachtung schenken würde: über einen Platz zum Schlafen, offenherzige Gastfreundschaft, einen Brunnen, der frisches Trinkwasser spendet und die erhitzten Unterarme kühlt, einen Rastplatz unter einem schattenspendenden Baum oder über die kühle Luft eines Supermarktes, in der man nach einem mehrstündigen Fußmarsch in glühender Hitze verweilt. Gerade wenn man älter wird, rückt die ursprüngliche Eltern-Kind-Beziehung vielleicht ein wenig aus dem Fokus. Lebensmittelpunkte verändern sich genauso wie die eigenen Interessen, und oft wird einem erst viel zu spät bewusst, wie viel gemeinsame Zeit man versäumt hat. Die größte Freude war für mich deshalb die unglaubliche Nähe zu meinem Vater, die sich mit jedem der 266.296 Schritte gesteigert hat. In der Einsamkeit des Gehens, wenn man stundenlang allein auf weiter Flur unterwegs ist, fasst man oft gleichzeitig denselben Gedanken und verständigt sich nur mit Blicken, Gesten und einem Lächeln, oder man übersieht zwischendurch die Zeit und hat während eines intensiven Gesprächs bereits das Ziel erreicht. Man unterstützt sich mit kleinen Gesten, hebt sich den Rucksack gegenseitig auf den Rücken, teilt das letzte Stück Schokolade, und man lernt, wieder zuzuhören, zwischen den Zeilen zu hören und sich uneingeschränkt aufeinander einzulassen. Das Erleben der vielen kleinen Zufälle, die letztendlich diesen Weg ausmachen, der Wille weiterzugehen und die Wertschätzung der kleinen Alltagsfreuden habe ich für mich mitgenommen – und ich freue mich schon sehr darauf, das Gefühl der Zufriedenheit, das ich am „Camino“ erleben durfte, heuer auf der nächsten Etappe durch Frankreich erneut zu erfahren.
Jakobsweg
Der Jakobsweg (Camino de Santiago) wurde erstmals 1047 erwähnt. Bezeichnet wird damit eine Anzahl von Pilgerwegen durch ganz Europa. Alle haben das angebliche Grab des Apostels Jakobus in Santiago de Compostela zum Ziel. Der bekannteste und am meisten begangene Jakobsweg ist jener in Spanien, der Camino Francés: Die hochmittelalterliche Hauptverkehrsachse Nordspaniens beginnt vor den Pyrenäen und verbindet die Königsstädte Jaca, Pamplona, Estella, Burgos und León miteinander. Diese Route, so wie sie heute noch begangen wird, entstand bereits in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts.
Santiago de Compostela: Das Ziel des Jakobswegs ist die Grabstätte des Apostels Jakobus des Älteren in Santiago de Compostela. Der Namensgeber der Stadt ist ebenso der Heilige Jakob („Sant Jago“), dessen Grab im 9. Jahrhundert ein Einsiedler auf einem Sternenfeld (lat. Campus stellae, „Compostela“) gefunden haben will.
Jakobsmuschel: Die Jakobsmuschel ist das Erkennungszeichen der Pilger und dient auch zur Kennzeichnung der Jakobswege. Sie findet sich häufig auf Straßenschildern, Randsteinen und Wegkreuzen, aber auch auf Pilgerherbergen. Der Legende nach soll die Jakobsmuschel folgenden Ursprung haben: Ein junger Adeliger soll einst dem Schiff entgegengeritten sein, mit dem der Leichnam des Apostels Jakobus nach Spanien gebracht wurde. Der junge Mann versank unglücklicherweise im Meer, doch mit Jakobus` Hilfe gelangte der Ritter wieder ans Ufer. Dadurch war sein Körper über und über von Muscheln bedeckt, und deshalb wird die Muschel seitdem als Schutzzeichen getragen.
Länge des Jakobswegs: Innsbruck – Genf: ca. 640 km; Genf – Saint-Jean-Pied- de-Port: ca. 1.180 km, Saint-Jean-Pied-de-Port – Santiago de Compostela: ca. 780 km