Darmflora im Alter
Der Traum des Menschen vom ewigen irdischen Leben wird nie in Erfüllung gehen. Etwa 120 Jahre maximal hält die Forschung für möglich. Dem entspricht auch das Alter des bisher nachweislich ältesten Menschen: der Französin Jeanne Calment, die im Alter von 122 Jahren und 164 Tagen im Jahr 1997 gestorben ist. Aus medizinischer Sicht steht nicht die Zahl der erreichten Jahre im Vordergrund, sondern in welchem Gesundheitszustand das hohe Alter erlebt wird. Wann genau der natürliche Alterungsprozess beim Menschen beginnt, lässt sich nicht so genau festlegen. In einem Punkt sind sich Ärzte, Alternsforscher und andere im Wesentlichen aber einig: Ab dem 35. Lebensjahr beschleunigt sich das Altern. Was, wie und warum es genau in den folgenden Jahrzehnten passiert, bietet nach wie vor genug Stoff für Forschungsaktivitäten. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass eine Kombination aus genetischer Veranlagung, z. B. in Hinblick auf die Zellalterung, Umwelteinflüsse, das soziale Umfeld sowie epigenetische Veränderungen, im Laufe des Lebens das Altern beeinflusst.
Demenz, die Geißel des Alters
Großes Kopfzerbrechen bereitet der medizinischen Forschung die „Geißel des Alters“: das Vergessen, die Demenz. Ein echter Durchbruch in der Behandlung dieser Erkrankungen steht nach wie vor aus. Am besten weiß die Medizin darüber Bescheid, welche präventiven Maßnahmen diesen schleichenden Prozess verhindern oder ihm Einhalt gebieten können. Da rangieren z. B. Brettspiele ganz vorne, auch Lesen, eine neue Sprache lernen und Tanzen gehören dazu.
Hinweise darauf, dass unter anderen die Darmflora, das Mikrobiom, bei den dementiellen Abbauprozessen im Gehirn mitspielt, tauchen in der wissenschaftlichen Literatur immer öfter auf. Österreichische Mediziner wie Univ.-Prof. Dr. Friedrich Leblhuber sind vorne mit dabei an der Forschungsfront.
Prof. Leblhuber arbeitet als Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in Linz und befasst sich insbesondere mit neuropathologischen Vorgängen. „Die Entwicklungen in der Mikrobiomforschung sind faszinierend“, sagt er im Interview mit „bauchgefühl“ und meint damit unter anderem die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie, die im renommierten Wissenschaftsjournal „Neural Transmission“ veröffentlicht wurden. Diese gemeinsame Arbeit von Mitarbeitern der Landesnervenklinik Linz, der Medizinischen Universität Innsbruck und des Biovis-Instituts in Limburg in Deutschland analysierte Entzündungsmarker bei dementen Patienten.
„Stille“ Entzündungen aufdecken
Wie geht das? Hochspezialisierte Labormethoden und gentechnische Verfahren machen das möglich, z. B. durch Analysen der Stuhlproben von Patienten. Damit können unter anderem sogenannte Entzündungsmarker identifiziert werden. Sie geben Auskunft darüber, ob und in welchem Ausmaß entzündliche, jedoch symptomlose Prozesse im Körper ablaufen. Prof. Leblhuber und seine Mitarbeiter untersuchten diese Parameter bei Patienten mit einer Demenzerkrankung, weil es inzwischen zahlreiche Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Infektionen und Abbauprozessen im Gehirn gibt. „Unsere auf hohes Interesse in der Wissenschaftswelt stoßenden Ergebnisse zeigen, dass erhöhte Entzündungswerte im Stuhl signifikant invers mit niedrigen Tryptophan-Tyrosin- und Phenylalanin-Spiegeln im Serum korrelierten“, berichtet der Neurologe. „Eine Folgeuntersuchung an 43 Alzheimer-Patienten brachte durchwegs entsprechende Ergebnisse: Alpha-1-Antitrypsin und Calprotein, beide Parameter für ein Entzündungsgeschehen, waren deutlich erhöht. Zugleich konnte in allen Fällen ein erniedrigter Wert für das entzündungshemmend wirksame Bakterium Faecalibacterium prausnitzii nachgewiesen werden.“
Leaky gut
Das hört sich kompliziert an und ist es letztlich auch. Doch die Bedeutung „stiller“ Infektionen für das Auftreten von Erkrankungen kennt die Medizin schon seit längerem. So wurde z. B. im Jahr 1999 nachgewiesen, dass in dem Blutgerinnsel, das zuerst ein Herzkranzgefäß verstopft und dann zum Herzinfarkt führt, dieselben entzündlichen Substanzen vorkommen wie in einem Gelenk mit rheumatischer Entzündung. Forschungsarbeiten der letzten zehn Jahre haben nun einen neuen Faktor ins Spiel gebracht: den geschädigten Darm („leaky gut“) mit veränderter Darmflora und geschädigten Epithelzellen, sowie dessen Auswirkungen über die Darm-Hirn-Achse.
„Leaky gut“ heißt übersetzt „löchriger Darm“ medizinisch ausgedrückt eine „gestörte Darmbarriere“. Wenn die Schleimhäute des Darmtraktes nämlich aufgrund von Entzündungen durchlässig werden, kommen Schadstoffe über die Blutbahn in den gesamten Organismus, auch in das zentrale Nervensystem (ZNS) und damit ins Gehirn. Der Begriff „Leaky-gut-Syndrom“ wurde schon in den 1990-er Jahren das erste Mal in einer Publikation erwähnt, war damals aber vorwiegend in der integrativen Medizin ein Thema. Das hat sich mittlerweile grundlegend geändert. Assoziationen einer beschädigten Darmbarriere mit unterschiedlichen Erkrankungen erachtet inzwischen auch die Schulmedizin für höchst wahrscheinlich, angefangen von Adipositas und Diabetes über Demenz bis hin zur Zöliakie und zu Leberschäden.
Alzheimer und Darmflora: Entzündungen im Darm verändern das Gehirn
Ausgebreitet würde die Darmschleimhaut eine Fläche von mehr als 400 Quadratmetern bedecken. Sie reguliert sowohl die Aufnahme von Nährstoffen in den Organismus als auch die Abwehr potenzieller Schadstoffe. Das Funktionieren dieser Mechanismen dürfte unter anderem von „Kittsubstanzen“ zwischen den Darmepithelzellen, den sogenannten „tight junctions“, abhängen. Kommt es in der komplexen Signalkette des Immunsystems zu Störungen, dann werden Schadstoffe nicht mehr erkannt und entsprechende Abwehrprozesse bleiben aus – der Darm wird durchlässig auch für jene Substanzen, die nicht mit der Nahrung in den Organismus kommen sollten: schädliche Keime, Toxine oder auch Allergene. Bei diesen krankhaften Prozessen spielen Veränderungen der Darmflora eine wichtige Rolle.
Prof. Leblhuber erklärt die möglichen Auswirkungen einer Immunschwäche auf das Zentralnervensystem: „Ein leaky gut entsteht durch lokale Entzündungsprozesse. Der Übertritt von Entzündungszellen in die Blutbahn verursacht dann auch chronische Infektionen in anderen, peripheren Körperregionen. Die Entzündungskaskade dürfte schließlich über das autonome Nervensystem mit einer zentralen Neuroinflammation im Gehirn enden, die bei Patienten mit Alzheimer-Demenz zu den frühen, nachweisbaren Veränderungen gehört. Dieser Prozess könnte schon Jahrzehnte vor dem Auftreten erster Symptome einsetzen. Ausgangspunkt dafür ist letztlich das leaky gut, dem wir durch die Analyse bestimmter Parameter wie erhöhten Konzentrationen von Calprotectin im Stuhl auf die Spur kommen können. Eine schwedische Forschergruppe postuliert klar, dass nach ihren Untersuchungen die Entwicklung von Morbus Alzheimer und anderen neurodegenerativen Erkrankungen vom Mikrobiom ausgeht.“
Probiotische Intervention
Dass eine Therapie mit speziell entzündungshemmenden probiotischen Keimen das Entzündungsgeschehen massiv beeinflussen kann, hält auch Prof. Leblhuber für wahrscheinlich. Bestätigende Ergebnisse dazu liegen inzwischen sowohl aus Tierexperimenten wie auch aus seinen eigenen Studien mit Patienten vor. Nämlich, dass durch Probiotikagabe die Genexpression in der Gehirnrinde verändert und die Entzündung verringert werden kann. Da Veränderungen des Mikrobioms und entzündungsbedingte Schäden im Zuge einer neurodegenerativen Erkrankung wie Alzheimer sehr früh eintreten, könnte sich eine möglichst frühzeitige probiotische Therapie günstig auswirken. Diese in Expertenkreisen mittlerweile weit verbreitete Annahme wird derzeit in weiteren Studien noch genauer erforscht. „Wenn es gelingt, die lokale Entzündung durch probiotische Intervention im Darm zu stoppen – wovon wir ausgehen“, so Prof. Leblhuber, „dann sollte daraus auch ein Schutz vor degenerativen Prozessen im Gehirn, die einer Alzheimer-Demenz zugrunde liegen, resultieren.“
Möglich wäre sogar die Verbesserung von bereits eingetretenen neurodegenerativen Veränderungen durch die Anwendung von speziell entzündungshemmenden und die Darmbarriere stärkenden Synbiotika.
So altert der Mensch
Das Altern ist ein natürlicher Prozess, der im Lauf der Jahrzehnte den ganzen Körper und sämtliche Organe betrifft. Dabei gibt es große individuelle Unterschiede hinsichtlich der Ausprägung und des Zeitpunktes des Auftretens. Nachfolgend einige der wichtigsten altersbedingten Veränderungen:
Augen: Die Fähigkeit der Anpassung an kurze Entfernungen nimmt ebenso ab (Altersweitsichtigkeit) wie jene an veränderte Lichtbedingungen. Diese Abbauprozesse beginnen meist um das 40. Lebensjahr.
Gehör: Verschlechterungen des Hörvermögens – sowohl hinsichtlich der erforderlichen Lautstärke und der fassbaren Tonfrequenzen als auch hinsichtlich des Verstehens – resultieren meist aus altersbedingten Veränderungen im Innenohr. Auch die Wahrnehmung störender Geräusche (Tinnitus) ist oft altersassoziiert.
Geruch, Geschmack und Durst: Die Differenzierung von Gerüchen und Geschmacksfeinheiten lässt sukzessive nach. Im höheren Alter kann es dadurch zu vermindertem Appetit und einseitiger Ernährung kommen. Auch das Durstgefühl wird geringer, weshalb ältere Menschen oft zu wenig trinken.
Knochen: Die Qualität der Knochen hängt von einem ausgewogenen Auf- und Abbauprozess der Knochenzellen ab. Mit zunehmendem Alter überwiegt der Abbau, vor allem bei einem Mangel an Vitamin D. Regelmäßiges Training kann diesen Prozess stark verzögern.
Gehirn: Die Zahl der Gehirnzellen nimmt sukzessive ab, die Signalübertragung zwischen Nervenzellen lässt nach oder geht verloren. Außerdem wird im Alter die Isolierschicht von Nervenzellen abgebaut, was z. B. das Reaktionsvermögen und die Verarbeitungsfähigkeit mehrerer gleichzeitiger Reize herabsetzt. Allerdings ist das Gehirn bis ins hohe Alter trainierbar. Abgebaute oder ausgefallene Nervenverbindungen können von anderen übernommen bzw. können sogar neue Gehirnzellen gebildet werden.
Die Haut wird dünner und trockener. Sie verliert Proteinfasern wie Kollagen, die sie elastisch und dehnbar machen. Auch die Speicherkapazität für Wasser lässt nach, das Unterhautfettgewebe baut ab.
Die Muskulatur wird mit zunehmendem Alter langsamer aufgebaut als in jungen Jahren, die Fetteinlagerung nimmt zu. Gezieltes Training verlangsamt diesen Prozess, grundsätzlich kann die Muskelkraft selbst im hohen Alter noch verbessert werden.
Herz und Kreislauf: Auch das Herz ist ein Muskel. Im Alterungsprozess werden Muskelfasern durch Bindegewebe ersetzt, was die Leistungsfähigkeit dieses Organs verringert.
Das Immunsystem produziert zunehmend weniger Abwehrzellen und Antikörper, die Infektanfälligkeit nimmt zu. Solche Erkrankungen verlaufen im fortgeschrittenen Alter oft schwerer als in jüngeren Jahren, Komplikationen treten häufiger auf, unter anderem weil Schäden im Darm sich negativ auf das immerhin zu 80% im Darm befindliche Immunsystem auswirken.
Darm und Verdauung: Altersbedingt produzieren die Drüsen des Körpers weniger Hormone und Verdauungssekrete, die Ernährungsgewohnheiten ändern sich, und häufig kommt die dauerhafte Einnahme von Medikamenten hinzu. All dies verursacht Veränderungen in der Zusammensetzung der Darmflora: Die nützlichen Lactobazillen und Bifidobakterien werden reduziert, Fäulniskeime vermehren sich und wirken sich nachteilig auf den Verdauungsprozess aus.