Schmerzkiller Darmflora?
Chronische Schmerzen sind für die Betroffenen eine Qual. Häufig sind die Ursachen und Auslöser unbekannt, eine zufriedenstellende Behandlung ist in vielen Fällen nicht möglich. Mag. Anita Frauwallner interviewt dazu Univ.-Prof. Dr. med. Michael Herbert von der Abteilung für Spezielle Anästhesiologie, Schmerz- und Intensivmedizin der Medizinischen Universität Graz. Der Experte erklärt, welchen Einfluss der Darm auf die Schmerzentstehung haben könnte, und zeigt eine neue Therapieoption auf.
Mag. Frauwallner: Wegen unterschiedlicher Faktoren wie Stress, Haltungsproblemen etc. klagen immer mehr Menschen über chronische Schmerzen. Was sind aus Ihrer Sicht die grössten Herausforderungen bei der Behandlung dieser Patienten?
Univ.-Prof. Dr. med. Herbert: Chronische Schmerzen beeinträchtigen nicht nur das Wohlbefinden der betroffenen Patienten, sondern haben auch Auswirkungen auf deren privates und soziales Umfeld. Das sind komplexe Wechselwirkungen, die zur Entstehung, Aufrechterhaltung und Verstärkung chronischer Schmerzen beitragen. Man spricht hierbei nach den modernen Erkenntnissen vom biopsychosozialen Konzept der Entstehung chronischer Schmerzen. Dies bedeutet, dass nicht nur biologische (= körperliche), sondern auch psychologische und soziale Faktoren zur Entstehung chronischer Schmerzen beitragen. Und das macht die erfolgreiche Behandlung der Patienten so komplex. Eine Behandlung chronischer Schmerzen ist nur dann erfolgreich, wenn sich diese gegen die Ursachen der Schmerzentstehung richtet und nicht nur symptomatisch ist.
Mag. Frauwallner: Wenn ich das richtig verstehe, sind Sie somit kein Verfechter von Salben und Tabletten gegen Schmerzen?
Univ.-Prof. Dr. med. Herbert: Die Gabe von Schmerzmitteln, die zwar den Schmerz lindern oder zeitlich begrenzt beseitigen, verändern bei chronischen Schmerzen selten etwas an den Auslöseursachen. Zudem haben alle Schmerzmittel teils starke und unter Umständen lebensbedrohliche Nebenwirkungen. Demzufolge ist eine ursachenorientierte Behandlung erstrebenswert, aber bei vielen chronischen Schmerzen kennt man bis heute die Auslöser bzw. den Entstehungsmechanismus nicht. Um den komplexen Wechselwirkungen, die dem biopsychosozialen Konzept der Schmerzchronifizierung zu Grunde liegen, gerecht zu werden, therapiert man in der modernen Schmerzmedizin viele chronische Schmerzen, z. B. Rückenschmerzen, nach einem multimodalen, interdisziplinären Behandlungskonzept. Diese Therapie umfasst auch die Vermittlung von Informationen an die Patienten über die Besonderheiten der Schmerzerkrankung und die Behandlungsmöglichkeiten, ebenso deren Limitationen und ggf. Nebenwirkungen. Die Betroffenen müssen eigenständig Aktivitäten entfalten und sich aus ihrer meist passiven Haltung und Lebenseinstellung lösen. Auf diese Art und Weise ist die Behandlung vieler chronischer Schmerzen erfolgreich und nachhaltig.
Bei vielen chronischen Schmerzen kennt man bis heute die Auslöser bzw. den Entstehungsmechanismus nicht.
Mag. Frauwallner: Man hört immer häufiger von „Ganzkörperschmerzen“ – was genau muss man sich darunter vorstellen? Gibt es Behandlungsansätze?
Univ.-Prof. Dr. med. Herbert: Viele Patienten haben umschriebene Schmerzen an einer Stelle des Körpers, z. B. an einem Gelenk, am Rücken, am Kopf oder anderswo. Aber es gibt auch Patienten, die Schmerzen am ganzen Körper haben, was nachvollziehbar zu einem grossen Leidensdruck, einer massiv eingeschränkten Lebensqualität und zu regelrechter Verzweiflung bei den Betroffenen führt. Diese Patienten haben nicht nur Schmerzen an den Beinen und Armen, sondern auch am Brustkorb und/oder am Bauch sowie häufig Kopfschmerzen. Noch komplizierter wird die Situation dadurch, dass viele Betroffene zusätzlich einen Reizdarm mit Schmerzen, Blähungen, Verkrampfungen im Bauchraum, begleitet von chronischem Durchfall und/oder Verstopfung, sowie eine Reizblase mit chronischer Zystitis (Blasenentzündung) haben. Bei den Schmerzen an Armen und Beinen sind häufig nicht oder nicht nur die Gelenke schmerzhaft, sondern insbesondere die Muskulatur und deren Sehnenansätze an den Knochen. Ferner sind diese Menschen körperlich wenig belastbar – körperliche Arbeit sowie Muskeltraining führen zur Schmerzverstärkung und schnell zur Erschöpfung. Dem nicht genug, haben viele Betroffene Schlafstörungen, sind antriebslos und leiden unter depressiven Episoden. Dass die Behandlung dieser komplexen Beschwerden schwierig und oft nicht zufriedenstellend ist, liegt auf der Hand. Da diese Ganzkörperschmerzen für viele Ärzte nicht vorstell- und/oder nachvollziehbar sind, noch dazu bei unbekannter Ursache und unbekanntem Entstehungsmechanismus, werden Betroffene häufig nicht ernst genommen bzw. werden die Beschwerden als „psychischen Ursprungs“ abgetan.
Mag. Frauwallner: Schmerz entsteht zum grössten Teil im Kopf, und man erforscht immer besser die Bedeutung der sogenannten Darm-Hirn-Achse. Was kann man sich darunter vorstellen? Bzw. könnte diese Funktionsachse auch das Schmerzempfinden beeinflussen?
Univ.-Prof. Dr. med. Herbert: Wir Menschen haben ein Schmerzmeldesystem, das beim Akutschmerz aus der Weiterleitung der Informationen über periphere Nerven, dann Nervenbahnen im Rückenmark bis hin zu diversen Zentren im Gehirn besteht. Die bewusste Wahrnehmung von Schmerzen erfolgt ausschliesslich im Gehirn. Der Magen- Darm-Trakt hat ein eigenständiges Nervensystem, das die verschiedenen Funktionen des Verdauungstrakts regelt und steuert. Das komplexe Nervengeflecht in der Darmwand reguliert aber nicht nur die Funktionen im Darm, sondern es registriert auch viele Veränderungen im Darminneren. So haben die Mikroorganismen im Darm und deren Stoffwechselprodukte Wirkungen auf das darmeigene Nervensystem. Die moderne Wissenschaft steht erst am Anfang diese komplizierten Vorgänge zu untersuchen und zu verstehen. Dieses darmeigene Nervensystem kommuniziert mit den Nervenbahnen und -zentren im Rückenmark und im Gehirn. Das bedeutet, dass Informationen aus dem darmeigenen Nervensystem ins Gehirn gelangen und dort Veränderungen in den Nerven des Gehirns hervorrufen können. Damit wäre denkbar, dass bisher nicht untersuchte und noch unbekannte Veränderungen im Darminneren, z. B. die Besiedelung des Darms mit Mikroorganismen, zu Veränderungen der Funktionsweise von Nerven im Gehirn führen, die ihrerseits im Zusammenhang mit der Entstehung chronischer Schmerzen zu sehen sind.
Viele Betroffene von Ganzkörperschmerzen leiden zusätzlich an einem Reizdarm mit Schmerzen, Blähungen und Verkrampfungen im Bauchraum, begleitet von Durchfall, Verstopfung und einer Reizblase.
Mag. Frauwallner: Sie haben bei zahlreichen Ihrer Schmerzpatienten auch die Darmflora untersucht. Das ist äusserst innovativ und spannend. Was haben Sie gesehen?
Univ.-Prof. Dr. med. Herbert: Bei einzelnen Patienten mit Schmerzen unbekannter Ursache wurden erste Untersuchungen der Zusammensetzung der Darmflora und anderer Eigenschaften des Darms durchgeführt. Diese Untersuchungen stehen am Beginn, und die Befunde sind daher noch mit Zurückhaltung zu interpretieren. Aber alle bisher untersuchten Patienten zeigten Auffälligkeiten im Mikrobiom, verglichen mit den Normwerten des Kontrollkollektivs des Labors, das diese Bestimmungen durchführte.
Mag. Frauwallner: Gab es darüber hinaus noch den Darm betreffende Beschwerden bei Ihren Schmerzpatienten?
Univ.-Prof. Dr. med. Herbert: Auffällig war, dass bei der sorgfältigen Erhebung der Krankengeschichte alle Patienten in der Vergangenheit Antibiotika eingenommen hatten und einige Patienten auch von Unverträglichkeiten auf Lebensmitteln oder Lebensmittelbestandteile berichteten. Antibiotika verändern zumindest vorübergehend die normale Besiedelung des Darms mit den diversen Mikroorganismen, und Unverträglichkeiten rufen lokale allergische Reaktionen an der Darmwand hervor, was zur Histaminfreisetzung und nachfolgend zur vermehrten Durchlässigkeit der Darmwand führt. Welche Auswirkungen diese veränderte Zusammensetzung der Besiedelung des Darms mit Mikroorganismen auf die Entstehung von chronischen Schmerzen hat, ist gegenwärtig Gegenstand systematischer Untersuchungen.
Mag. Frauwallner: Ein absoluter Sonderfall von Schmerz ist die Vulvodynie, über die Sie ja auch ein Buch geschrieben haben. Worum geht es?
Univ.-Prof. Dr. med. Herbert: Der Begriff Vulvodynie beschreibt Schmerzen der weiblichen Genitale, der Vulva und der Vagina. Diese Schmerzen treten bei betroffenen Frauen spontan und/oder bei mechanischer Irritation unterschiedlicher Art auf. Zu Letzterer zählen beispielsweise Geschlechtsverkehr oder die Irritation durch eng anliegende Bekleidung, Fahrradfahren etc., aber auch nur durch Sitzen. Dass diese Schmerzen das Wohlbefinden und die Lebensqualität der Betroffenen stark beeinträchtigen, lässt sich leicht nachvollziehen. Bei einigen dieser Frauen ist bei der Untersuchung durch Gynäkologen und Urologen keine plausible Ursache für diese Beschwerden erkennbar, was den Leidensdruck und die Verzweiflung der Frauen zusätzlich verstärkt. Das Fehlen von organischen Veränderungen und Auffälligkeiten erschwert zum einen eine ursachengerichtete Therapie und führt zum anderen aber auch oft zu der Annahme, dass diese Beschwerden in einem nicht näher bekannten Zusammenhang mit psychischen Ursachen zu sehen sind. Bei einer Gruppe von Patientinnen mit Vulvodynie ist auffällig, dass diese auch an anderen Schmerzen wie Ganzkörperschmerzen, chronischer Zystitis, Kopfschmerzen, Fibromyalgie, Reizdarm etc. leiden. Ob bei Patientinnen mit Vulvodynie ein Zusammenhang mit Auffälligkeiten in der Besiedelung des Magen-Darm- Trakts mit Mikroorganismen besteht, ist gegenwärtig hypothetisch, aber durch erste Untersuchungen einzelner Patientinnen im Bereich des Möglichen. Kontrollierte Studien sind hierzu in der Planungsphase.
Mag. Frauwallner: Welche Ergebnisse erwarten Sie von der probiotischen Forschung für die Schmerztherapie der Zukunft?
Univ.-Prof. Dr. med. Herbert: Systematische Untersuchungen bei einigen speziellen Schmerzsyndromen werden zukünftig zeigen, ob die probiotische Therapie eine neue Facette in der Schmerztherapie werden kann. Wir stehen mit dieser neuen Idee ganz am Anfang. Aber erste Einzelfallbeobachtungen stimmen zuversichtlich, dass sich mit der Probiotikagabe ein neues grosses Tor zu einer erfolgreichen, ursachengerichteten Therapie bestimmter, bisher schlecht behandelbarer chronischer Schmerzen öffnet.
* Univ.-Prof. Dr. med. Michael Herbert arbeitet an der klinischen Abteilung für Spezielle Anästhesiologie, Schmerz- und Intensivmedizin der Medizinischen Universität Graz. neben speziellen Schmerzen, etwas der Vulvodynie, erforscht er auch intensiv den Einfluss des Darm-Mikrobioms auf bestimmte chronische Schmerzen.