Thore Hansen
Gicht und Mikrobiom: Wissenschaft im Gespräch
Als plötzlich einsetzender Schmerz, als hätte man Nadeln im Gelenk, so äussert sich ein Gichtanfall. Meist beginnt er an der Grosszehe oder in den Knie- oder Fingergelenken. Schon die kleinste Berührung genügt, und der Schmerz setzt schlagartig ein. In Zeiten der Kaiser und Könige stellte die Gicht eine der ersten Wohlstandskrankheiten dar, die auf Völlerei und viel Wein zurückzuführen war. Das erklärt die heute steigenden Zahlen bei Menschen mit westlichem Lebensstil. Doch was hilft dagegen? Neben einer strengen Diät und harnsäuresenkenden Medikamenten kommen auch der Darm und das Mikrobiom in das therapeutische Blickfeld. Wir sprachen mit dem Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. med. Heinz-Jürgen Träger.
bauchgefühl: Die Gicht zählt zu den häufigsten Erkrankungen. Doch was ist Gicht eigentlich für ein Krankheitsbild und wen betrifft es?
Dr. med. Heinz-Jürgen Träger: Unter Gicht versteht man eine Stoffwechselerkrankung, bei der es zu einem krankhaften Anstieg des Harnsäurespiegels im Blut kommt. Infolgedessen können sich Harnsäurekristalle bilden, die sich in den Gelenken ablagern und zu einer äusserst schmerzhaften Entzündung des betroffenen Gelenkes führen können. Beim ersten Mal ist meist die Grosszehe betroffen.
Von einer Hyperurikämie, also einem zu hohen Harnsäurespiegel im Blut, spricht man beim Mann ab einem Harnsäurespiegel von 7 mg/dl im Serum, bei der Frau ab 5,7 mg/dl. Zwar zeigt nicht jeder mit einem erhöhten Harnsäurespiegel Symptome, allerdings steigt die Wahrscheinlichkeit eines Gelenkbefalls mit den Harnsäurewerten im Blut. Fast ein Fünftel aller Männer weisen heute eine Hyperurikämie auf, aber weitaus weniger (ca. 2-3 %) erkranken an einer manifesten Gicht. Männer leiden meist häufiger an ihr – aufgrund des höheren Alkoholkonsums und einer Ernährung mit grösserem Fleischanteil. Sie erkranken zwischen dem 40. und dem 50. Lebensjahr, Frauen eher zwischen dem 50. und dem 60. Lebensjahr, da das weibliche Sexualhormon Östrogen vor einer Gicht schützt und sein Spiegel normalerweise erst nach den Wechseljahren absinkt.
bauchgefühl: Gibt es erste Warnzeichen, die auf eine Gicht hindeuten?
Dr. med. Heinz-Jürgen Träger: In der Regel wird der erhöhte Harnsäurespiegel im Blut bei einer Vorsorgeuntersuchung entdeckt. Spätestens wenn sich die Erkrankung in den Gelenken manifestiert hat und der erste echte Gichtanfall auftritt, suchen die Menschen einen Arzt auf, denn solche Schmerzen sind schwer auszuhalten: „Ich kann nicht einmal die Bettdecke auf meiner entzündeten Zehe ertragen“, wird häufig geklagt. Aber eine Hyperurikämie kann auch lange Zeit ohne Symptome verlaufen.
bauchgefühl: Steht diese Entzündung der Gelenke auch in Zusammenhang bzw. in Wechselbeziehung mit anderen Krankheiten?
Dr. med. Heinz-Jürgen Träger: Gicht ist die häufigste entzündliche Gelenkerkrankung. Eine Stoffwechselkrankheit, die weltweit immer häufiger auftritt und oft in Verbindung mit Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems steht. Mehr als die Hälfte aller Gicht-Patienten leiden ebenso an Bluthochdruck, nicht selten in Kombination mit dem Metabolischen Syndrom, mit zu hohen Blutzucker- und Blutfettwerten sowie krankhaftem Übergewicht. Medikamente (z. B. wasserausschwemmende Tabletten) und Nierenerkrankungen fördern das Auftreten von Gicht. Auch eine plötzliche Gewichtsabnahme, ob gewollt oder ungewollt, kann die Krankheit auslösen.
bauchgefühl: Was ist die eigentliche Ursache? Nur der Lebensstil? Oder auch eine genetische Veranlagung?
Dr. med. Heinz-Jürgen Träger: Fakt ist, dass der westliche Lebensstil für viele Krankheiten verantwortlich ist. Früher waren nur 10 % aller Krankheiten, die wir täglich in unseren Praxen behandelten, chronisch. Heute sind es nahezu 90 %. Durch ein Zuviel an Zucker (insbesondere Fruchtzucker in verarbeiteten Lebensmitteln), schlechten Kohlenhydraten, besonders rotem und industriell verarbeitetem Fleisch, Salz sowie an schlechten Fetten werden viele Zivilisationserkrankungen, wie auch die Gicht, ausgelöst. Denn diese sogenannte „Western Diet“ fördert die Produktion von Harnsäure.
Genetische Faktoren begünstigen den Anstieg des Harnsäurespiegels. Nahrungsmittel mit einem hohen Gehalt von Purinen werden im Organismus zu Harnsäure abgebaut und bei gesunden Menschen mit dem Urin und zu einem geringeren Teil mit dem Stuhl ausgeschieden. Ist diese Ausscheidung aber gestört, kommt es zur Hyperurikämie und in der Folge zur Ablagerung von Harnsäurekristallen in den Gelenken, den Sehnenscheiden und den Schleimbeuteln. Das führt dann zu den mitunter heftigen Gelenkbeschwerden. Diese Kristalle werden von Fresszellen, sogenannten Phagozyten, aufgenommen, was Entzündungsstoffe freisetzt, die letztlich die Gelenkentzündung hervorrufen.
bauchgefühl: Ist Gicht heilbar? Was kann man selbst tun, um die Symptome zu reduzieren?
Dr. med. Heinz-Jürgen Träger: Es bedarf auf jeden Fall einer konsequenten Diät, die arm an Purinen ist. Darüber hinaus können einige Lebensmittel dabei helfen, die Harnsäure im Blut zu verringern. Es gibt natürlich auch Medikamente, die aber ein sehr hohes Potenzial von Neben- bzw. Wechselwirkungen haben. Alternativen sind der Einsatz von Arzneipflanzen (Phytotherapie) sowie die Modulation der Darmflora.
Zur Linderung der Beschwerden ist ein konsequenter Verzicht auf Lebensmittel notwendig, die viel Purin enthalten: Konsumiert werden sollten wenig bis kein Alkohol, v. a. kein Bier, da hier im Vergleich zu Wein eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine Gichterkrankung besteht. Am besten auch keine Softdrinks, sondern eine hohe tägliche Trinkmenge mit zwei bis drei Liter Wasser, aber auch Tee und Kaffee. Und natürlich viele Mikronährstoffe wie Vitamine.
bauchgefühl: Gibt es Nahrungsmittel, die Harnsäure effizient abbauen?
Dr. med. Heinz-Jürgen Träger: Ja. Die Sauerkirsche senkt die Harnsäure und hat gleichzeitig eine entzündungshemmende Wirkung, die bereits fünf Stunden nach dem Verzehr messbar ist. Noch wirksamer ist der konzentrierte Saft. Zusätzlich begünstigt die Sauerkirsche das Wachstum von nützlichen Bifidobakterien in der Darmflora. Dafür sind die in der Sauerkirsche vorkommenden Polyphenole verantwortlich. Wenn man genügend Polyphenole zu sich nimmt, verändert man seine Darmflora, das Mikrobiom, positiv und hilft so dem Darm, Harnsäure besser auszuscheiden.
Eine andere Pflanze, deren Wirkung viele noch nicht so gut kennen, ist die Birke. Ihre Rinde und Blätter enthalten Gerb- und Bitterstoffe, Saponine, Flavonoide und Vitamin C. Letzteres ist ebenfalls wichtig für die Senkung der Harnsäure. Der nächste therapeutische Ansatz ist Kaffee. Allerdings wirkt hier nicht das Koffein, sondern die im Kaffee enthaltenen sekundären Pflanzenwirkstoffe, die bereits erwähnten Polyphenole. Auch Curcumin fördert die Ausscheidung von Harnsäure und wirkt ebenfalls entzündungshemmend. Das ist ein Pflanzenextrakt, der bei vielen Erkrankungen begleitend eingenommen werden kann, insbesondere bei zahlreichen chronischen Erkrankungen. Für mich ist Curcumin in der begleitenden Therapie so wichtig, da es eine stabilisierende Wirkung auf das Mikrobiom hat, es wirkt positiv auf die Darmbarriere, das Immunsystem und wirkt im Darm auf schädliche Mikroorganismen hemmend ein. In diesem Zusammenhang kommt Chicorée ins Spiel: Der hohe Gehalt an Ballaststoffen, die essenziell für die „guten“ Bakterien im Darm sind, und die dadurch bedingte gesundheitsfördernde Modulation der Darmflora können zur Absenkung erhöhter Harnsäurespiegel beitragen. Die Vermehrung guter Bakterien hilft dabei, einen aus der Balance geratenen Darm wieder in Schuss zu bringen. Zudem hemmt Chicorée die mit der Gicht verbundenen Entzündungsreaktionen.
bauchgefühl: Viele machen hervorragende Erfahrungen mit Omega-3-Fettsäuren. Kann man etwa mit Fischöl gegen die Gicht ankämpfen?
Dr. med. Heinz-Jürgen Träger: Es gibt eindeutige Hinweise, dass Omega-3-Fettsäuren Entzündungen unterdrücken können. Die Fettsäuren verhindern, dass Entzündungsbotenstoffe ausgesendet werden. Dies deutet darauf hin, dass eine Anwendung bei Gicht und anderen Entzündungskrankheiten sinnvoll ist. Omega-3-Fettsäuren stecken vor allem in fettreichen Meeresfischen. Bei Gicht wird jedoch empfohlen, nicht zu viel Fisch zu essen. Daher ist es ratsam, hochwertige Nahrungsergänzungsmittel mit Omega-3-Fettsäuren einzunehmen. Fischölkapseln enthalten die wichtigen Omega-3-Fettsäuren, aber kaum Eiweisse und damit auch kaum Purine. Ebenso kommt diese essenzielle Fettsäure in Mikroalgen vor.
bauchgefühl: Für uns ist natürlich besonders interessant, welche Verbindung zwischen Gicht und Darmflora besteht. Welche Erkenntnisse gibt es diesbezüglich?
Dr. med. Heinz-Jürgen Träger: Wenn man das Mikrobiom von Gichtpatienten untersucht, stösst man in der Regel auf eine gestörte Darmflora, eine Dysbiose. Diese gestörte Darmflora finden wir bei fast allen Stoffwechselerkrankungen vor. Deswegen kommt einem gesunden Darm eine so grosse Bedeutung zu. Immerhin wird ein Drittel der Harnsäure über den Darm ausgeschieden. Eine erhöhte Zufuhr der bereits genannten Purine kann den Darm so belasten, dass als Folge eine Dysbiose auftritt und sogar noch mehr Harnsäure gebildet wird. Nicht selten treten weitere Stoffwechselstörungen auf, da die Dysbiose im Darm oft auch zu einer Störung des Kohlehydrat- und Fettstoffwechsels führt und in der Folge zu Fettleibigkeit oder Diabetes Typ 2.
Dabei ist eine gesunde Darmflora für Patienten mit Gicht sehr bedeutsam, denn probiotische Bakterien können Enzyme synthetisieren, die Harnsäure abbauen können. Hier kommt dann auch die Zufuhr von Präbiotika ins Spiel, um die für uns günstigen Bakterienstämme zu ernähren und deren Vermehrung anzuregen. Faserstoffe, Ballaststoffe oder Präbiotika haben einen enormen Nutzen für unsere Gesundheit – und fehlen in unserer westlichen Ernährungsweise. Empfehlenswert ist eine Aufnahme von bis zu 40 g Ballaststoffen pro Tag, tatsächlich werden durchschnittlich 8 bis 10 g täglich aufgenommen. Unsere Darmbakterien haben schlicht zu wenig Nahrung. Eine Vermehrung von Bifidobakterien und Laktobazillen stärkt die Darmbarriere, drängt pathogene Keime zurück und vermindert somit entzündliche Prozesse im Darm. Zudem gibt es Laktobazillen, die in der Lage sind, den Abbau der Harnsäure zu fördern. Pro- und Präbiotika sind in jedem Fall ein wichtiger Aspekt in der Gichttherapie. Durch Phytotherapeutika, die gleichzeitig das Mikrobiom beeinflussen, und den Einsatz von Pro- und Präbiotika haben wir eine nebenwirkungsfreie Methode, um die Gicht zu behandeln bzw. gar nicht erst entstehen zu lassen, da der Körper auch bei einer genetischen Disposition genug Harnsäure abbauen kann.
Was sind Purine?
Purine sind Bausteine der Erbinformationen in den Zellen. Damit sind Purine im Grunde in jeder Zelle enthalten, so auch in fast allen Lebensmitteln. Diese Stoffe werden über den sogenannten Purinstoffwechsel vom Körper zu Harnsäure abgebaut – je mehr Purine im Körper vorhanden sind, umso mehr Harnsäure kann entstehen.
Lebensmittel mit hohem Puringehalt:
- Fleisch (auch Wild und Geflügel), Wurstwaren, Fleischextrakte, Innereien
- Fisch (mit wenigen Ausnahmen), Schalen- und Krustentiere
- Sojaprodukte, Hülsenfrüchte
- Geräuchertes
- Spargel, Rosenkohl, Kohl, Spinat
- Schwarzwurzeln, Lauch, Mais, Broccoli, Artischocken
- Fruchtzucker in konzentrierter Form (z. B. in Softdrinks, Süssigkeiten,
Fertiggerichten)
Personenkurzbeschreibung
Dr. med. Heinz-Jürgen Träger studierte Humanmedizin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen sowie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, promovierte im Fachbereich Chirurgie und absolvierte seine Facharztausbildung zum Arzt für Allgemeinmedizin. Seit 1989 ordiniert er in Bad Mergentheim und hat im Laufe seiner Tätigkeit zunehmend die naturheilkundlichen Diagnostik- und Therapieprinzipien ergänzend zur klassischen schulmedizinischen Behandlung in seine Praxis integriert.