Dr. Verena Stieglbauer & Dr. Lukas Grumet
Wunderwerk Darm
Der Darm ist mit einer Fläche von ca. 300 Quadratmetern nicht nur unser größtes Organ, sondern er bietet auch einen wichtigen Lebensraum für zahlreiche Mikroorganismen. Erfahren Sie hier wichtige Daten und Fakten und auch Faszinierendes über das Organ, dessen Wichtigkeit von uns häufig zu Unrecht unterschätzt wird.
Die Anatomie des Darms
Der Darm schließt an den Magenausgang an und besteht vereinfacht gesagt aus den beiden Hauptteilen Dünndarm und Dickdarm. Ersterer lässt sich in Zwölffingerdarm (Duodenum), Leerdarm (Jejunum) und Krummdarm (Ileum) unterteilen. Beginnen wir unsere Reise vom Magen abwärts: Im Zwölffingerdarm werden Verdauungssekrete unter den Speisebrei aus dem Magen gemischt und hier setzt somit die eigentliche Aufnahme von Nährstoffen in den Körper ein. Im Dünndarm wird die vorverdaute Nahrung in einzelne Bestandteile wie z. B. Aminosäuren und freie Fettsäuren aufgetrennt und diese Verbindungen gelangen schließlich über die Darmschleimhaut ins Blut. Die Mündungsstelle des Dünndarms in den Dickdarm wird von der sogenannten Bauhin’schen Klappe verschlossen, welche verhindert, dass Darminhalt in den Dünndarm zurückgelangen kann.
Der Dickdarm untergliedert sich in Blinddarm (Zökum) mit dem Wurmfortsatz (Appendix vermiformis), Grimmdarm (Kolon) und Mastdarm (Rektum). Hier wird dem Dünndarminhalt zur Eindickung des Stuhls Wasser entzogen. Die Bakterien des Dickdarms fermentieren die in der aufgenommenen Nahrung enthaltenen Ballaststoffe, welche den Zellen des Dickdarms als Nährstoffe dienen und so die Darmfunktion unterstützen.
Unter dem Mikroskop betrachtet, folgt der Aufbau der Darmwand in allen Darmabschnitten demselben Schema: Die Darmschleimhaut (Mukosa) ist die innerste Schicht der Darmwand. Sie bildet Darmzotten (das sind die kleinen fransenartigen Strukturen, welche übrigens auch für die große Oberfläche des Darms verantwortlich sind), die nur im Dünndarm vorkommen, bzw. sogenannte Krypten (das sind Aus- und Einstülpungen der Darminnenwand), die typisch für die Schleimhaut im Dickdarm sind. Die Schleimhaut an sich besteht aus mehreren dünnen Schichten. Unter der Schleimhaut befindet sich eine Bindegewebsschicht (Submucosa), in welche feinste Blutgefäße, Lymphbahnen und Nervenäste eingebettet sind. Die Muskelschicht (Muskularis) der Darmwand besteht aus quer und längs verlaufenden Muskelfasern, damit der Darm sich längs wie quer zusammenziehen kann, um den Nahrungsbrei weitertransportieren zu können. Die äußerste Schicht der Darmwand ist ebenfalls eine Bindegewebsschicht und wird als Serosa bezeichnet.
Betrachtet man den Zwölffingerdarm etwas genauer, sieht man eine glatte innere Oberfläche, welche sich in den weiteren Abschnitten durch Falten, Zotten, Krypten und den Bürstensaum (sogenannte Mikrovilli – das sind feine Fortsätze auf der Oberfläche der Darmzellen) vergrößert. Diese Oberflächenvergrößerung ist sehr wichtig für eine gesteigerte Aufnahme von Nährstoffen und Wasser.
Erkrankungen des Darms
Die häufigsten Dünndarmerkrankungen lassen sich in entzündliche Darmerkrankungen, Autoimmunerkrankungen und Infektionskrankheiten einteilen. Entzündliche Darmerkrankungen können beispielsweise Schwellungen und Entzündungen im Dünndarm hervorrufen. Eine davon ist Morbus Crohn, sie kann alle Schichten der Darmwand betreffen. Obwohl diese Erkrankung sich besonders häufig im Dick- und Dünndarm zeigt, können grundsätzlich alle Abschnitte des Verdauungstraktes davon betroffen sein. Die besagte Krankheit macht sich bei den Betroffenen durch langandauernde und häufige Durchfälle, Unterbauchschmerzen und auch Gewichtsverlust bemerkbar. Die häufigste Autoimmunerkrankung des Dünndarms ist Zöliakie, wobei es bei dieser Erkrankung zu einer Entzündung des Dünndarms kommt. Das Immunsystem stuft hierbei das eigentlich harmlose Eiweiß Gluten als gefährlich ein und reagiert darauf, sobald Gluten mit der Nahrung aufgenommen wird. Jenes Protein kommt in vielen Getreidesorten wie Weizen, Gerste, Dinkel oder Roggen vor. Einen weiteren wichtigen Faktor stellt die Gewebetransglutaminase dar; ein Eiweiß, das bei gesunden Menschen das Gluten spaltet. Gluten und die Gewebetransglutaminase befinden sich auf der Darmschleimhaut, welche sich durch die Angriffe des Immunsystems entzündet.
Im Dickdarm können sich bereits geringe Beeinträchtigungen durch Koliken, Bauchschmerzen, Blähungen und Veränderungen des Stuhlgangs bemerkbar machen. Zu den nennenswerten Krankheiten des Dickdarms gehören unter anderem die chronisch entzündlichen Erkrankungen Colitis Ulcerosa und der bereits beschriebene Morbus Crohn.
Colitis Ulcerosa wird meist bei jungen Erwachsenen im Alter von 20 bis 30 Jahren diagnostiziert. Die Krankheit beschränkt sich auf die oberflächlichen Schleimhautschichten im Dickdarm. Als Folge der Krankheit kann die Schleimhaut gerötet und verletzlich sein, sodass es häufig zu spontanen Blutungen und Geschwüren kommt. Bei den betroffenen Patienten kann sich diese Entzündung – vom Mastdarm ausgehend – auf den gesamten Dickdarm ausbreiten.
Ebenfalls den Dickdarm betrifft das Reizdarmsyndrom. Bei dieser Erkrankung machen sich Symptome wie Durchfall, Verstopfung, Bauchschmerzen und Blähungen bemerkbar, für die sich keine anderen Erkrankungen als Ursache nachweisen lassen.
Welchen Einfluss hat das Mikrobiom auf Darmerkrankungen?
Der gesamte Verdauungstrakt bietet eine enorme Fläche für den Austausch zwischen Mikroorganismen und menschlichen Epithelzellen bei der Verstoffwechslung von Nährstoffen. Abhängig vom Stoffwechsel und von der daraus resultierenden Nährstoffsituation sind die unterschiedlichen Abschnitte des Verdauungstrakts mit unterschiedlichen Bakterien besiedelt.
Das Mikrobiom ist für viele lebensnotwendige Vorgänge beim Menschen, etwa den Schutz vor Krankheitserregern und die Stärkung des Immunsystems, zuständig. Eine sogenannte Dysbiose wird mit zahlreichen unterschiedlichen Erkrankungen in Verbindung gebracht. Dazu zählen u. a. chronisch entzündliche Darmerkrankungen: Studien belegen, dass Patienten mit Morbus Crohn im Vergleich zu gesunden Personen ein verändertes Darmmikrobiom und zudem eine geringere bakterielle Diversität aufweisen. Auch bei Colitis Ulcerosa ist die Zusammensetzung des Darmmikrobioms so verändert, dass weniger kurzkettige Fettsäuren wie Butyrat oder Propionat produziert werden. Infolge wird die Aktivierung von Immunzellen weniger stark unterdrückt – das Immunsystem reagiert stärker, woraus eine gesteigerte Entzündungsreaktion resultiert.
Ein gestörtes Mikrobiom lässt sich mittlerweile gut behandeln: Mit der Gabe von Probiotika können gezielt Bakterienkulturen mit speziellen Fähigkeiten wieder zugeführt werden. Besonders geeignet sind Probiotika, deren Zusammensetzung für einen speziellen Zweck kombiniert wurde und deren positive Wirkung in wissenschaftlich anerkannten Studien nachgewiesen ist.
Darmbakterien
„Genau“ genommen beherbergt der Darm eines gesunden Erwachsenen in etwa 100 Billionen Bakterien (das sind 100.000.000.000.000 Lebewesen!). Interessanterweise setzt sich diese enorme Zahl aus nur 500-1000 verschiedenen Bakterienarten zusammen, die wiederum nur 4 verschiedenen Abteilungen, sogenannten „Phyla“, zugeordnet werden: Firmicutes, Bacteroidetes, Proteobacteria und Actinobacter. Über 99% dieser mikroskopisch kleinen Bewohner sind Anaerobier, was bedeutet, dass sie zum Überleben eine sauerstofffreie Umgebung benötigen. Dies mag erst einmal überraschend klingen, ist bei näherer Betrachtung jedoch logisch, da der Darm mit seinen dutzenden Metern Länge im Inneren faktisch keinen Sauerstoff enthält. So wie die Menschen sind eben auch Bakterien echte Anpassungskünstler und wissen exakt, wo sie sich ansiedeln müssen, um optimal leben zu können.
Wo aber wohnen nun welche bakteriellen Vertreter? Wie bereits erwähnt verändern sich sämtliche biochemischen Parameter entlang des Darms – vom Magen bis hin zum Rektum (siehe Abbildung 2). Dementsprechend findet man in den verschiedenen Darmabschnitten auch unterschiedliche Bakterienfamilien.
Dünndarm
Heimat des Lactobacillus Acidophilus
Obwohl im Dünndarm nur ein kleiner Teil der gesamten Bakterien der Darmflora lebt (über 90% wohnen etwas weiter „stromabwärts“ im Dickdarm), findet man ausgerechnet hier die vermutlich „berühmtesten“ Vertreter mit mindestens ebenso wichtigen Funktionen: Lactobazillen wie Lactobacillus Acidophilus sorgen hier durch die Produktion von Milchsäure für eine Stabilisierung des pH-Wertes. Kippt der pH-Wert im Dünndarm, kann dies einen Ausbruch von Pathogenen (von Darmpilzen!) zur Folge haben. Ein weiteres Merkmal vieler Lactobazillen ist deren Umwandlung von Tryptophan-Molekülen in immunologisch wirksame Elemente. Die kleinen Milchsäurebakterien stellen also einen festen Bestandteil eines funktionierenden Immunsystems dar – eine Verdrängung (begünstigt durch salzhaltige, von „Convenience Food“ dominierte Ernährung) hat schwerwiegende Folgen.
Dickdarm
Big Apple der Mikroben
Der Dickdarm des Menschen ist im wahrsten Sinne des Wortes ein kleiner Bioreaktor. Billionen von Bakterien fermentieren hier Ballaststoffe zu essentiellen Mikronährstoffen. Ein prominenter probiotischer Keim der im Colon angesiedelten Flora ist Bifidobacterium Bifidum. Dieses nichtmotile (= ortsansässige) Bakterium gehört zu den „Allroundern“ der Darmflora eines gesunden Erwachsenen. Qualitativ hochwertige Studien belegen eine Rolle von Bifidobacterium Bifidum bei der Prävention des Reizdarmsyndroms und chronisch entzündlicher Darmerkrankungen, bei der Stabilisierung des Cholesterinspiegels, der Linderung von allergischen Symptomen, der Verbesserung des Hautbildes, der Verminderung des psychischen Stressempfindens, beim Schutz vor freien Radikalen – und sie schreiben ihnen sogar eine mögliche Rolle bei der Entstehung von Dickdarmkarzinomen zu. Bifidobacterium Bifidum gehört zusammen mit weiteren wichtigen probiotischen, colonassoziierten Keimen wie z. B. Bifidobacterium Breve, Lactobacillus Brevis, Enterococcus durans oder Lactobacillus Rhamnosus zu den sogenannten „Leitkeimstämmen“ – das bedeutet, dass sie essentiell am Aufbau einer gesunden und funktionierenden Darmflora beteiligt sind und dafür sorgen können, dass sich auch zahlreiche andere Keime im Darm vermehren können.
Der Darm als Bakterienreservoir
Eine weniger bekannte ambivalente Rolle kommt der Darmflora bei der Aufrechterhaltung der sexuellen Gesundheit zu: So zeigen Studien, dass das Rektum ein Reservoir für natürlich vorkommende Vaginalbakterien ist. Patientinnen, bei denen die Spezies Lactobacillus crispatus und Lactobacillus Jensenii in der Vagina und im Rektum nachweisbar waren, hatten laut einer hochrangigen Studie ein signifikant geringeres Risiko, an einer bakteriellen Vaginose zu erkranken als jene Patientinnen, bei denen die beiden Keime nur in der Vagina detektierbar waren. Momentan wird davon ausgegangen, dass dieses Phänomen auf einer bakteriellen, chemotaktischen Migration vom Rektum Richtung Vagina beruht, was die Theorie unterstützt, dass übertriebene, aggressive Hygienepraktiken die Vaginalflora negativ beeinflussen können.
Ebenso spannend ist die Tatsache, dass stillende Mütter nachweislich ihre Darmflora über die Muttermilch auf das säugende Kind übertragen können. Dieser Mechanismus wird den sogenannten dendritischen Zellen zugeschrieben, speziellen Immunzellen, welche in der Lage sind, Bakterien zu „fangen“ und schließlich über die Lymphwege des Menschen zu wandern. Dendriten können in die Milchdrüsen der Mutter eindringen und so dafür sorgen, dass der Säugling mit der Darmflora der Mutter besiedelt wird.
Gesundheitszentrale Darm
Als Zuhause für rund 2 kg Bakterien bildet der Darm durch Millionen biochemischer Austauschprozesse das wohl vielfältigste Organ des Körpers, dessen enorme Wichtigkeit für unsere Gesundheit wir gerade erst zu verstehen beginnen. Der Großteil des Immunsystems wird im Darm gebildet, Allergien und Infektanfälligkeit nehmen hier ihren Anfang. Selbst chronische Erkrankungen wie Parkinson und Alzheimer scheinen im Darm zu wurzeln. Jüngste Studien belegen sogar, dass Darm(-flora) und Gehirn in engem Austausch stehen und mittels einer Modulation der Darmflora durch Probiotika Gehirnfunktion und Entscheidungsfindung verbessert werden könnten. Der Darm ist also weit mehr als ein „Verdauungsschlauch“: Mit seinen vielfältigen Darmbakterien fungiert er als Zentrale unserer Gesundheit, die wir auch als solche behandeln sollten.